Im Gespräch

Modestas Pitrenas, Chefdirigent und Künstlerischer Leiter Konzert, gibt Einblicke in die Magie des Dirigierens und verrät, wann eine Interpretation gelungen ist, wie sein ganz persönliches künstlerisches Credo lautet und welche Schreckmomente er auf der Bühne schon erlebte.
Franziska Frey: Wie erklärst du jemandem, was deine Aufgabe als Dirigent während einer Aufführung ist?

Modestas Pitrenas: Der russische Komponist und Theoretiker Nikolai Rimski-Korsakow sagte einmal: «Dirigieren ist ein dunkler Wald». Und genau so ist es, Dirigieren ist ein sehr komplexes Fachgebiet. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, geschweige denn ein Erfolgsrezept. Wenn jemand ein:e gute:r Musiker:in ist und es versteht, die persönlichen Fähigkeiten charismatisch auf das Ensemble zu übertragen, dann ist schon die Hälfte geschafft.

FF: Und die andere Hälfte?

MP: Eine ausdrucksstarke Handfertigkeit, ein scharfes Gehör und ein kontrolliertes Ego – dann ist man schon fast am Ziel.

FF: Fast? Können, Charisma, Ausdruck, Gehör, Persönlichkeit – ein gefragter Maestro, eine gefragte Maestra, am Pult ist man dann aber noch immer nicht?

MP: So ist es, ein:e Dirigent:in ist eine Person, die in der Lage ist, Musiker:innen in einem gemeinsamen Ziel, einer gemeinsamen Vision zu vereinen und sie zum gemeinsamen Musizieren zu inspirieren. Einmal, vor fast zehn Jahren, entdeckte ich im Dirigentenzimmer auf dem Kleiderschrank einen Satz, der mit einem bleichen Bleistift geschrieben war: «Deine Aufgabe ist es, zu inspirieren» («Your job is to inspire»). Ich weiss nicht, wer das geschrieben hat, ein verklärter Dirigentenkollege oder ein verärgertes Orchestermitglied vielleicht, aber es hat meine Sicht auf meinen Beruf verändert.

FF: Oft höre ich die Frage, was ein:e Dirigent:in während einer Aufführung überhaupt beeinflussen kann, ob nicht die Vorbereitung vielmehr zählt ...

MP: In der Tat ist die Aufgabe des Dirigenten beim Dirigieren ziemlich komplex, wenn nicht sogar schizophren. Man dirigiert, indem man den Fluss und die Form des Werks projiziert, man muss die Sinfonie oder das Konzert vom ersten bis zum letzten Takt voraushören, aber gleichzeitig muss man auf die auftretenden Ungenauigkeiten reagieren: Temposchwankungen, die Balance zwischen den Gruppen, das Zusammenspiel, Veränderungen der Klangfarbe usw.

FF: Im Musiktheater kommen noch weitere Parameter hinzu ...

MP: Ja, der Aspekt des Zusammenspiels ist in der Oper noch grösser, da gibt es noch mehr musikalisch wirkende Elemente auf der Bühne, und aus dem Off spielt vielleicht noch eine Bühnenmusik oder ein Tonträger. Wie das funktioniert, kann ich nicht beantworten.

FF: Das heisst also, beim Dirigieren ist nicht alles erklär- und kontrollierbar?

MP: Wenn man beim Dirigieren anfängt, darüber nachzudenken, wie das alles funktioniert, geht man unter! Es ist das Gleiche wie beim Laufen, wenn man anfängt, darüber nachzudenken, wie und wann man jeden Muskel bewegen muss ...

FF: Es kann also sein, dass die eigenen Vorstellungen nicht immer erreicht werden?

MP: Ja, es kann sein, dass man nicht das richtige Tempo findet, den Charakter, den man will, nicht hinbekommt oder man die Musik nicht im Ozean des ppp (Piano-Pianissimo) versinken lassen kann, «das Wunder nicht am Schwanz» fangen kann. Aber genau diese Momente sind es, für die wir auf der Bühne leben. Und wenn sie kommen, jene Momente, werden sie vom Publikum definitiv auch wahrgenommen.

FF: Was macht für dich eine gute Interpretation aus?

MP: Das sind Augenblicke, die einen erschaudern lassen, die einen verwundern. Dann fragt man sich, wie man das gemacht hat. Welche technischen oder psychologischen Gründe haben zu solch unerwarteten, verblüffenden künstlerischen Entscheidungen geführt? Eine gute Interpretation ist oft mit einer tadellosen Technik verbunden, aber immer auch mit bestimmten Momenten «am Rande der Kante», wenn das Überschreiten der Kante unmöglich, ja sogar hässlich werden kann. «Am Rand» ist der Ort, an dem die magischen Momente stattfinden.

FF: Kann es sein, dass du nach der persönlichen Vorbereitung in die erste Probe kommst und deine Ideen bereits wieder anpassen musst?

MP: Das passiert immer! Es wäre seltsam, wenn es nicht so wäre. Das Bild, das ich für das Stück vorbereitet habe, ist ein Traumschloss, das in den ersten Minuten der Begegnung mit dem Orchester zusammenbricht. So muss es sein! Denn das bedeutet nicht, dass ich meine Linie aufgebe, sondern ich lasse zu, dass sie durch die Gedanken und die Fantasie der Orchestermusiker:innen bereichert wird.

FF: Ist diese Offenheit für die gegenseitige Bereicherung zwischen Orchester und dir etwas, das du in deiner 25-jährigen Karriere erst lernen musstest?

MP: Es gab Gelegenheiten, bei denen ich meine Vorstellungen durchgesetzt und versucht habe, die Initiative der Musiker:innen zu bezwingen. Das hat aber dazu geführt, dass eine konfrontative und inakzeptable Atmosphäre entstanden ist – sie wieder ins Positive zu wenden, hat mich dann viel mehr Zeit und Mühe gekostet. Als Dirigent bin ich also auch ein Psychologe und Konfliktvermittler.

FF: Wann dirigierst du mit Dirigierstab, wann ohne?

MP: Der liebe Gott hat kein besseres Instrument als die menschliche Stimme erfunden, und genauso kann kein goldener oder elfenbeinerner Dirigierstab den Ausdruck einer menschlichen Hand erreichen. Es stimmt, dass Dirigent:innen, um zu verhindern, dass dieser «Ausdruck» den Fluss der Musik stört, einen «trockenen Körper» – einen Taktstock – nehmen, der die Ansatzpunkte objektiver und unmissverständlicher zeigt. Aber bei Musik, die keine grosse Präzision erfordert, etwa bei langsamen Sätzen, ist die menschliche Hand ein unübertroffenes Instrument!

FF: Apropos Ausdruck: Beim Dirigieren ist der körperliche Ausdruck ja ungemein wichtig. Übst du vor dem Spiegel?

MP: Nicht mehr, obwohl die St. Petersburger Dirigierschule, die während des Studiums an der Litauischen Musikakademie gelehrt wurde, Selbstbeherrschung durch Beobachtung der eigenen Bewegungen im Spiegel propagiert. Das tun auch die Bläser:innen, indem sie die physiologischen Feinheiten des Gesichts und insbesondere der Lippen kontrollieren. Wenn ich mir die Aufzeichnungen meines Studiums ansehe, bewundere ich deshalb die Präzision der Gesten, die manuelle Sauberkeit. Leider habe ich nicht mehr so viel Zeit, um die Bewegungen vor dem Spiegel auszuarbeiten, also versuche ich, sie mir nicht vor mir, sondern in mir vorzustellen.

FF: Was gibt es für typische Albträume für Dirigent:innen?

MP: Ich werde wahrscheinlich nichts Neues sagen, und jede:r Musiker:in hatte schon solche Albträume: Man hört, wie sein Name aufgerufen wird, und ein paar Augenblicke später muss man auf die Bühne gehen und findet den Weg nicht mehr. Schliesslich stürzt man fünfzehn Minuten verspätet vor einem verärgerten Publikum in den Saal und weiss nicht, welches Stück man dirigiert, man hat keine Ahnung, mit welcher Note es beginnt und so weiter.

FF: Wurde ein solcher Albtraum auch schon Wirklichkeit?

MP: Ein ganz ähnliches Abenteuer habe ich einmal erlebt, ja: Ich ging auf die Bühne und stellte fest, dass der Dirigent vor mir meine Partitur mitgenommen hatte. Es war eine Live-Fernsehsendung, da hat man keine Zeit, nach den Noten zu suchen. Das Stück war super modern. Zum Glück war es langsam und eintönig. Geholfen haben mir mein gutes Gedächtnis und die Musiker:innen, die mir von ihren Plätzen aus körpersprachlich die Einsätze der Gruppen anzeigten. Ich war noch nie so konzentriert – und dankbar!

Fantastische Tänze

Transatlantic
Tonhallekonzert

Do, 7.3.24, 19.30 Uhr
Fr, 8.3.24, 19.30 Uhr
Tonhalle