Feingefühl und Flexibilität
Igor Keller, 1. Konzertmeister des Sinfonieorchesters St.Gallen, verrät, was ihm an seinem vielseitigen Beruf besonders am Herzen liegt, ob die Nervosität eine stete Begleiterin ist, was ihn in seiner Solopassage in Richard Strauss’ Ein Heldenleben am meisten fasziniert und welchen Geiger er gerne persönlich kennenlernen würde.
Lea Fussenegger: Was ist der genaue Aufgabenbereich eines Konzertmeisters während den Proben und Konzerten?
Igor Keller: Das Problem liegt im Wort "genau", denn der Aufgabenbereich ist ziemlich undefiniert. Man könnte zehn Konzertmeister:innen fragen und man würde zehn verschiedene Antworten erhalten. Für mich lautet die Antwort: Es kommt immer drauf an, was es braucht. Das ist abhängig von dem:der Dirigent:in, weil jede:r anders arbeitet und den Fokus auf Unterschiedliches legt. Daran passt man sich an und daraus entsteht eine Interaktion, die optimal abgestimmt sein muss. Letztendlich geht es darum, alle Kleinigkeiten so zu regeln, dass in kürzester Zeit das beste Ergebnis für die Musik entsteht. Die Probenzeiten für ein Orchester sind heutzutage ziemlich begrenzt – man muss schwere Stücke in wenigen Proben erarbeiten. Als Konzertmeister sorge unter anderem ich dafür, dass alles so positiv, effizient und praxisgerecht wie möglich umgesetzt wird. Ich bin das Bindeglied zwischen Dirigent:in und Orchester. Spielt beispielsweise ein:e Dirigent:in selbst kein Streichinstrument, liegt es an mir, die Anweisungen an die Streicher:innen in technisch korrekten Begriffen weiterzugeben und alle auf eine gemeinsame Spielart zu verständigen. Gewisse Dirigent:innen gehen bis ins letzte Detail und entscheiden alles selbst. Andere lassen mehr Freiheiten und dann muss man als Konzertmeister:in mehr Verantwortung übernehmen. Und so bin ich zusätzlich für die Homogenität zwischen den verschiedenen Registern verantwortlich. Es ist eine komplexe Interaktion, die wirklich Feingefühl und Flexibilität sowie eigene Meinung fordert: Je nach Situation muss man Anweisungen auch entgegenwirken, wenn man überzeugt ist, dass etwas nicht funktionieren kann. Es ist ein sehr vielfältiger Beruf und das gefällt mir besonders; jeder Tag schaut anders aus.
Lea Fussenegger: Feingefühl, Flexibilität und Durchsetzungsvermögen – welche weiteren Fähigkeiten müssen Konzertmeister:innen besitzen?
Igor Keller: Die zwischenmenschliche Fähigkeit, verschiedene Persönlichkeiten zu vereinigen, um als Gruppe zu funktionieren: Wir müssen eine gewisse Arbeitsatmosphäre fördern, die sehr anspruchsvoll sein soll, aber auch so positiv wie möglich sein darf. Es muss beide Seiten geben und das ist nicht ganz einfach: Zu locker und lustig ist nicht gut, aber zu stur und starr auch nicht. Selbstverständlich kommt es auch auf das Orchester an, denn jedes Orchester hat seine eigene Kultur: Ein Orchester ist wie ein Wesen und die Musiker:innen sind Zellen dieses Wesens. Aber es gibt einen Turnus – diese Zellen erneuern sich, genau wie unser Körper. Das Orchester entwickelt sich. Dennoch ist grundsätzlich eine gewisse Persönlichkeit vorhanden von diesem multizellulären Organismus, dem Orchester. Und dann wird klar: Ein:e gewisse:r Konzertmeister:in, der:die perfekt für dieses Orchester ist, mag nicht geeignet sein für ein anderes. Deswegen ist auch der Anstellungsprozess insbesondere für Konzertmeister:innen langwierig und kritisch, denn schlussendlich geht es nicht nur um gut oder nicht gut, sondern auch um passend oder nicht passend.
Lea Fussenegger: Bist du nervös, bevor du auf die Bühne gehst?
Igor Keller: Immer. Die Leute, die sagen, sie seien nicht nervös, sind mir ein Rätsel. Klar, man würde gerne ohne Nervosität auf die Bühne gehen, aber ob das Endresultat besser wäre, weiss ich nicht. Als Konzertmeister:in trägt man jeweils noch die Verantwortung für Soli. Das ist nicht zu unterschätzen – vor allem, wenn so ein Stück kommt wie Ein Heldenleben.
Lea Fussenegger: Anknüpfend an Ein Heldenleben … Richard Strauss hat in dieser Sinfonischen Dichtung die einzelnen Abschnitte ursprünglich mit Überschriften betitelt, die er später wieder entfernen liess. Dein grosses Solo kommt im dritten Abschnitt mit der Überschrift "Des Helden Gefährtin". Kannst du das Solo innerhalb des ganzen Werks einordnen?
Igor Keller: Mittlerweile hat dieses Solo ein bisschen eine Übergrösse bekommen. Vielleicht, weil es zeitlich gesehen einen beträchtlichen Teil des Werks ausmacht, so kadenziell und trotzdem so genau vom Komponisten geschrieben wurde. Bei jeder Passage wird mir eine Stimmung vorgegeben, die vom Komponisten festgelegt ist. Bei diesem Solo handelt es sich um das einzige Element des Werks, in dem das Autobiografische nicht umstritten ist. Das ganze Werk hindurch fragt man sich immer: "Meint Strauss sich selbst als Helden oder nicht?" Er selbst hat die Frage nicht beantwortet, also weiss man es nicht wirklich.
Aber im Abschnitt "Des Helden Gefährtin" hat er ganz klar seine Frau gemeint. Sie scheint sehr launisch gewesen zu sein; das kann man nicht nur seinem musikalischen Schreiben, sondern auch seinem textuellen Schreiben entnehmen. Mein Solo wandert durch viele extreme Launen innert weniger Sekunden. Es ist aussergewöhnlich, eine Person so ungefiltert musikalisch zu beschreiben. Dadurch ist das Solo eine besondere Attraktion des Werks.
Lea Fussenegger: Was für Beschreibungen von Strauss sind in den Noten deiner grossen Solopassage zu lesen?
Igor Keller: Beispielsweise "heuchlerisch schmachtend", nur vier Takte später "lustig" und dann "leichtfertig". Danach wieder "zart, etwas sentimental", zwei Takte später "viel lebhafter" und wiederum zwei Takte darauf "übermutig". Irgendwann heisst es: "immer schneller und rasender", dann "plötzlich wieder ruhig und sehr gefühlvoll". Zuweilen schreibt Strauss sogar: "drängend", "schnell und keifend", "zornig". Das Solo ist extrem anspruchsvoll, wobei dennoch alles spielbar ist. Es ist schön, wenn ein Komponist sein Können so gut beherrscht, dass er die Grenzen genau kennt.
Igor Keller: Das Problem liegt im Wort "genau", denn der Aufgabenbereich ist ziemlich undefiniert. Man könnte zehn Konzertmeister:innen fragen und man würde zehn verschiedene Antworten erhalten. Für mich lautet die Antwort: Es kommt immer drauf an, was es braucht. Das ist abhängig von dem:der Dirigent:in, weil jede:r anders arbeitet und den Fokus auf Unterschiedliches legt. Daran passt man sich an und daraus entsteht eine Interaktion, die optimal abgestimmt sein muss. Letztendlich geht es darum, alle Kleinigkeiten so zu regeln, dass in kürzester Zeit das beste Ergebnis für die Musik entsteht. Die Probenzeiten für ein Orchester sind heutzutage ziemlich begrenzt – man muss schwere Stücke in wenigen Proben erarbeiten. Als Konzertmeister sorge unter anderem ich dafür, dass alles so positiv, effizient und praxisgerecht wie möglich umgesetzt wird. Ich bin das Bindeglied zwischen Dirigent:in und Orchester. Spielt beispielsweise ein:e Dirigent:in selbst kein Streichinstrument, liegt es an mir, die Anweisungen an die Streicher:innen in technisch korrekten Begriffen weiterzugeben und alle auf eine gemeinsame Spielart zu verständigen. Gewisse Dirigent:innen gehen bis ins letzte Detail und entscheiden alles selbst. Andere lassen mehr Freiheiten und dann muss man als Konzertmeister:in mehr Verantwortung übernehmen. Und so bin ich zusätzlich für die Homogenität zwischen den verschiedenen Registern verantwortlich. Es ist eine komplexe Interaktion, die wirklich Feingefühl und Flexibilität sowie eigene Meinung fordert: Je nach Situation muss man Anweisungen auch entgegenwirken, wenn man überzeugt ist, dass etwas nicht funktionieren kann. Es ist ein sehr vielfältiger Beruf und das gefällt mir besonders; jeder Tag schaut anders aus.
Lea Fussenegger: Feingefühl, Flexibilität und Durchsetzungsvermögen – welche weiteren Fähigkeiten müssen Konzertmeister:innen besitzen?
Igor Keller: Die zwischenmenschliche Fähigkeit, verschiedene Persönlichkeiten zu vereinigen, um als Gruppe zu funktionieren: Wir müssen eine gewisse Arbeitsatmosphäre fördern, die sehr anspruchsvoll sein soll, aber auch so positiv wie möglich sein darf. Es muss beide Seiten geben und das ist nicht ganz einfach: Zu locker und lustig ist nicht gut, aber zu stur und starr auch nicht. Selbstverständlich kommt es auch auf das Orchester an, denn jedes Orchester hat seine eigene Kultur: Ein Orchester ist wie ein Wesen und die Musiker:innen sind Zellen dieses Wesens. Aber es gibt einen Turnus – diese Zellen erneuern sich, genau wie unser Körper. Das Orchester entwickelt sich. Dennoch ist grundsätzlich eine gewisse Persönlichkeit vorhanden von diesem multizellulären Organismus, dem Orchester. Und dann wird klar: Ein:e gewisse:r Konzertmeister:in, der:die perfekt für dieses Orchester ist, mag nicht geeignet sein für ein anderes. Deswegen ist auch der Anstellungsprozess insbesondere für Konzertmeister:innen langwierig und kritisch, denn schlussendlich geht es nicht nur um gut oder nicht gut, sondern auch um passend oder nicht passend.
Lea Fussenegger: Bist du nervös, bevor du auf die Bühne gehst?
Igor Keller: Immer. Die Leute, die sagen, sie seien nicht nervös, sind mir ein Rätsel. Klar, man würde gerne ohne Nervosität auf die Bühne gehen, aber ob das Endresultat besser wäre, weiss ich nicht. Als Konzertmeister:in trägt man jeweils noch die Verantwortung für Soli. Das ist nicht zu unterschätzen – vor allem, wenn so ein Stück kommt wie Ein Heldenleben.
Lea Fussenegger: Anknüpfend an Ein Heldenleben … Richard Strauss hat in dieser Sinfonischen Dichtung die einzelnen Abschnitte ursprünglich mit Überschriften betitelt, die er später wieder entfernen liess. Dein grosses Solo kommt im dritten Abschnitt mit der Überschrift "Des Helden Gefährtin". Kannst du das Solo innerhalb des ganzen Werks einordnen?
Igor Keller: Mittlerweile hat dieses Solo ein bisschen eine Übergrösse bekommen. Vielleicht, weil es zeitlich gesehen einen beträchtlichen Teil des Werks ausmacht, so kadenziell und trotzdem so genau vom Komponisten geschrieben wurde. Bei jeder Passage wird mir eine Stimmung vorgegeben, die vom Komponisten festgelegt ist. Bei diesem Solo handelt es sich um das einzige Element des Werks, in dem das Autobiografische nicht umstritten ist. Das ganze Werk hindurch fragt man sich immer: "Meint Strauss sich selbst als Helden oder nicht?" Er selbst hat die Frage nicht beantwortet, also weiss man es nicht wirklich.
Aber im Abschnitt "Des Helden Gefährtin" hat er ganz klar seine Frau gemeint. Sie scheint sehr launisch gewesen zu sein; das kann man nicht nur seinem musikalischen Schreiben, sondern auch seinem textuellen Schreiben entnehmen. Mein Solo wandert durch viele extreme Launen innert weniger Sekunden. Es ist aussergewöhnlich, eine Person so ungefiltert musikalisch zu beschreiben. Dadurch ist das Solo eine besondere Attraktion des Werks.
Lea Fussenegger: Was für Beschreibungen von Strauss sind in den Noten deiner grossen Solopassage zu lesen?
Igor Keller: Beispielsweise "heuchlerisch schmachtend", nur vier Takte später "lustig" und dann "leichtfertig". Danach wieder "zart, etwas sentimental", zwei Takte später "viel lebhafter" und wiederum zwei Takte darauf "übermutig". Irgendwann heisst es: "immer schneller und rasender", dann "plötzlich wieder ruhig und sehr gefühlvoll". Zuweilen schreibt Strauss sogar: "drängend", "schnell und keifend", "zornig". Das Solo ist extrem anspruchsvoll, wobei dennoch alles spielbar ist. Es ist schön, wenn ein Komponist sein Können so gut beherrscht, dass er die Grenzen genau kennt.
Lea Fussenegger: Wie oft hast du dieses Solo schon im Konzert gespielt?
Igor Keller: Ich beschäftige mich schon lange damit, da es zum Kernrepertoire für Konzertmeister:innen gehört. Bei allen Probespielen ist es gefragt: Ich hatte es für mein Probespiel hier in St.Gallen einstudiert, aber im Konzert habe ich es noch nie gespielt.
Lea Fussenegger: Dann wird es eine Premiere.
Igor Keller: Genau, und deswegen ist man nervös, denn wir haben nur diesen einen Moment: Die Musik geschieht im Moment und ist nichts, das man rückgängig machen kann.
Lea Fussenegger: Wirst du nervöser sein als sonst?
Igor Keller: Nicht unbedingt, da es ein langes Solo ist; man hat Zeit zu musizieren und hineinzuwachsen. Es ist dankbarer, solche Soli zu spielen, als plötzlich drei, vier solistische Töne, die aus dem Nichts kommen. Wenn man dann einen der Töne nicht genau trifft, hat man schon 25% vom Solo nicht gemeistert. (lacht) So etwas macht mich nervöser als ein grosses Solo wie im Heldenleben. Die Nervosität verschwindet normalerweise sowieso beim Spielen, da man so sehr in der Musik lebt. Problematisch wird es, wenn man die Nervosität während des Spielens nicht loswird.
Lea Fussenegger: Gibt es typische Albträume, die man als Konzertmeister:in hat?
Igor Keller: Wenn ich mit Kolleg:innen rede, merke ich, dass wir alle ähnliche Albträume haben – egal, ob Orchester-, Kammermusiker:in oder Solist:in. Bekannte Ängste sind, auf die Bühne zu gehen, keine Ahnung zu haben, was gespielt wird, alles vom Blatt lesen zu müssen oder unsere Kleidung vergessen zu haben.
Lea Fussenegger: Ist noch nie etwas davon Wirklichkeit geworden?
Igor Keller: In diesem Ausmass nicht. Aber es passieren schon manchmal grenzwertige Dinge. Vor vielen Jahren, als ich in Strasbourg Assistenzkonzertmeister war, spielten wir Berlioz’ Harold en Italie – eine Sinfonie mit Solobratsche. Wir hatten einen weltberühmten Bratschisten. Wir spielten das Werk in der zweiten Konzerthälfte. In der Pause war ich so pflichtbewusst, dass ich mich mit meinen Noten zurückgezogen hatte, um meine Partie nochmals durchzugehen. Die Meldung, dass die zweite Hälfte anfängt, kam nie. Stattdessen hiess es auf einmal: "Igor Keller, auf die Bühne, bitte". Das ganze Orchester war bereits dort, der weltberühmte Solist war dort und ich kam mit meinen Noten auf die Bühne und habe mich dazugesetzt, dann konnte es endlich losgehen. Auch wenn so etwas nicht deine Schuld ist, ist es trotzdem peinlich. (lacht)
Lea Fussenegger: Gibt es eine:n Geiger:in, egal ob lebend oder nicht, mit dem:der du gerne mal einen Kaffee trinken gehen würdest?
Igor Keller: Mit viel zu vielen! Schon nur die Tatsache, dass man die verstorbenen Geiger:innen nicht mehr live erleben kann, ist äusserst bedauerlich – ich konzentriere mich deswegen auf die noch lebenden, sonst wäre meine Antwort ausufernd. Ich würde gerne mal Itzhak Perlman treffen. Er hat von allen Geiger:innen die interessanteste und natürlichste Beziehung zum Musizieren und zu seinem Instrument. Ich habe mich oft gefragt, weshalb. Er ist aufgrund seiner Poliomyelitis seit Kindesalter gelähmt. Ich denke, für ihn war Geigespielen eine Befreiung. Ich kann mich erinnern, als Kind hatte ich eine gegensätzliche Einstellung: Ich wollte Fussballspielen, aber ich musste Geige üben. Für Perlman war das wohl anders und ich denke, das hat eine ganz andere Ausstrahlung seines Spielens zum Ergebnis. Er scheint zudem so eine sonnige Persönlichkeit zu sein. Ihn würde ich extrem gerne treffen.
Igor Keller: Ich beschäftige mich schon lange damit, da es zum Kernrepertoire für Konzertmeister:innen gehört. Bei allen Probespielen ist es gefragt: Ich hatte es für mein Probespiel hier in St.Gallen einstudiert, aber im Konzert habe ich es noch nie gespielt.
Lea Fussenegger: Dann wird es eine Premiere.
Igor Keller: Genau, und deswegen ist man nervös, denn wir haben nur diesen einen Moment: Die Musik geschieht im Moment und ist nichts, das man rückgängig machen kann.
Lea Fussenegger: Wirst du nervöser sein als sonst?
Igor Keller: Nicht unbedingt, da es ein langes Solo ist; man hat Zeit zu musizieren und hineinzuwachsen. Es ist dankbarer, solche Soli zu spielen, als plötzlich drei, vier solistische Töne, die aus dem Nichts kommen. Wenn man dann einen der Töne nicht genau trifft, hat man schon 25% vom Solo nicht gemeistert. (lacht) So etwas macht mich nervöser als ein grosses Solo wie im Heldenleben. Die Nervosität verschwindet normalerweise sowieso beim Spielen, da man so sehr in der Musik lebt. Problematisch wird es, wenn man die Nervosität während des Spielens nicht loswird.
Lea Fussenegger: Gibt es typische Albträume, die man als Konzertmeister:in hat?
Igor Keller: Wenn ich mit Kolleg:innen rede, merke ich, dass wir alle ähnliche Albträume haben – egal, ob Orchester-, Kammermusiker:in oder Solist:in. Bekannte Ängste sind, auf die Bühne zu gehen, keine Ahnung zu haben, was gespielt wird, alles vom Blatt lesen zu müssen oder unsere Kleidung vergessen zu haben.
Lea Fussenegger: Ist noch nie etwas davon Wirklichkeit geworden?
Igor Keller: In diesem Ausmass nicht. Aber es passieren schon manchmal grenzwertige Dinge. Vor vielen Jahren, als ich in Strasbourg Assistenzkonzertmeister war, spielten wir Berlioz’ Harold en Italie – eine Sinfonie mit Solobratsche. Wir hatten einen weltberühmten Bratschisten. Wir spielten das Werk in der zweiten Konzerthälfte. In der Pause war ich so pflichtbewusst, dass ich mich mit meinen Noten zurückgezogen hatte, um meine Partie nochmals durchzugehen. Die Meldung, dass die zweite Hälfte anfängt, kam nie. Stattdessen hiess es auf einmal: "Igor Keller, auf die Bühne, bitte". Das ganze Orchester war bereits dort, der weltberühmte Solist war dort und ich kam mit meinen Noten auf die Bühne und habe mich dazugesetzt, dann konnte es endlich losgehen. Auch wenn so etwas nicht deine Schuld ist, ist es trotzdem peinlich. (lacht)
Lea Fussenegger: Gibt es eine:n Geiger:in, egal ob lebend oder nicht, mit dem:der du gerne mal einen Kaffee trinken gehen würdest?
Igor Keller: Mit viel zu vielen! Schon nur die Tatsache, dass man die verstorbenen Geiger:innen nicht mehr live erleben kann, ist äusserst bedauerlich – ich konzentriere mich deswegen auf die noch lebenden, sonst wäre meine Antwort ausufernd. Ich würde gerne mal Itzhak Perlman treffen. Er hat von allen Geiger:innen die interessanteste und natürlichste Beziehung zum Musizieren und zu seinem Instrument. Ich habe mich oft gefragt, weshalb. Er ist aufgrund seiner Poliomyelitis seit Kindesalter gelähmt. Ich denke, für ihn war Geigespielen eine Befreiung. Ich kann mich erinnern, als Kind hatte ich eine gegensätzliche Einstellung: Ich wollte Fussballspielen, aber ich musste Geige üben. Für Perlman war das wohl anders und ich denke, das hat eine ganz andere Ausstrahlung seines Spielens zum Ergebnis. Er scheint zudem so eine sonnige Persönlichkeit zu sein. Ihn würde ich extrem gerne treffen.