Ist es wirklich wahr, dass...

Die feiern doch ständig Partys, schlafen lange und leben in den Tag hinein. Kaum ein Beruf ist so stark mit Klischees behaftet wie der Bühnenberuf. Doch wie viel Wahrheit steckt dahinter? Wir haben einige gängige Vorurteile auf den Prüfstand gestellt und bei unseren Ensemblemitgliedern ganz unverblümt nachgefragt.
Ist es wirklich wahr, dass...

... Bühnendarsteller:innen immer lange ausschlafen?

Diese Behauptung erhält bestenfalls ein "Jein". Natürlich haben Bühnendarsteller:innen andere Arbeitszeiten als andere Berufsgruppen: Proben und Vorstellungen enden häufig erst nach 22 Uhr, die Proben am nächsten Morgen beginnen um 10 Uhr. Entsprechend verschieben sich die Schlafenszeiten. Doch unsere Ensemblemitglieder kommen nicht erst kurz vor Probenstart aus dem Bett, Stimme und Körper müssen erst aufgewärmt werden. "Routine und Disziplin sind entscheidend, um die nötige Energie fürs Training zu haben", betont Tänzer Guang-Xuan Chen. Auch Schauspieler Christian Hettkamp steht um 8 Uhr auf, um vor der Probe noch einmal den Text durchzugehen. Schauspielerin Diana Dengler ist ebenfalls Frühaufsteherin. Opernsänger Riccardo Botta unternimmt gerne vor Proben einen Spaziergang. Am Wochenende, wenn probenfrei ist, schläft der eine oder andere gerne aus – so wie auch viele, die einen "normalen" Beruf haben. Und Tubist Karl Schimke fügt augenzwinkernd hinzu, auch Musiker:innen ereile früher oder später die "senile Bettflucht".

… Bühnendarsteller:innen nicht mit Kritik umgehen können?

Es ist ein Lernprozess, konstruktive Kritik anzunehmen und angreifende Kommentare nicht an sich heranzulassen. "Wir nehmen dauernd Kritik und Verbesserungsvorschläge an und setzen alles Mögliche um", erklärt Karl Schimke. "Keine Reaktion ist die schlimmste Kritik", ergänzt Schlagzeuger Max Näscher. Einig sind sich alle darin, dass sie den falschen Beruf gewählt hätten, wenn sie damit nicht umgehen könnten. Dennoch gesteht Riccardo Botta, dass er bewusst meidet, Kritiken über sich selbst zu lesen, es sei denn, sie sind positiv. "Sehr reifes Verhalten, nicht wahr?" Schauspielerin Anja Tobler ergänzt mit einem Augenzwinkern: "Stimmt natürlich, wir können nur besser so tun, als würde es uns nichts ausmachen."

... Bühnendarsteller:innen ein anderes Verhältnis zur Realität haben?

In gewisser Weise vielleicht schon. Darsteller:innen setzen sich intensiv mit verschiedenen Lebenswelten auseinander und erzählen auf der Bühne Geschichten, die oft wenig mit ihrer persönlichen Realität zu tun haben. "Da sind wir in einer Blase, Raum und Zeit nehmen wir auf andere Weise wahr", erklärt Riccardo Botta. "Aber wenn der Vorhang fällt, dann sollte man relativ schnell wieder im Hier und Jetzt sein", ergänzt Christian Hettkamp. Schauspieler Marcus Schäfer hält es für hilfreich, sich ein realistisches Bild vom Beruf des Schauspielers zu machen, da man andernfalls sehr unglücklich damit werden kann. Und es gibt natürlich noch andere Prioritäten im Leben, die in die Realität zurückholen. Für den Bassisten Jonas Jud sind das beispielsweise die Bibel und die Familie, die einen Gegenpol zu seinem turbulenten Berufsleben bilden. Tänzerin Swane Küpper beschreibt, dass die befristeten Arbeitsverträge, das frühe Ablaufdatum der Karriere und ständige Ankommen in neuen Städten häufig dafür sorgen, dass man unter sich, also innerhalb der engen Gemeinschaft der Tanzwelt, bleibt. "Das kann Ähnlichkeit mit einem Paralleluniversum haben." Anja Tobler scherzt: "Manchmal spiele ich mir selber vor, ich wäre Millionärin. Aber der Kontostand Ende Monat verrät mir dann: ah nein, ich bin ja nur Schauspielerin."

... Bühnendarsteller:innen in den Tag hinein leben?

Ein klares Nein von allen Künstler:innen. Der Arbeitsalltag mit Proben, Vorstellungen und dem Selbststudium von Gesangspartien, neuen Stücken, Texten oder Choreografien lässt das gar nicht zu. "Für mich ist es wichtig, meinen Tag zu organisieren und produktiv zu gestalten", betont Jonas Jud. "Bei kreativen Prozessen liebe ich es zwar, mich geplant treiben zu lassen", ergänzt Max Näscher, "Für alles andere habe ich aber Routinen und ganz konkrete Pläne." Programme für Konzertprojekte plant er teils mehr als ein halbes Jahr im Voraus. Dennoch, besonders für Tänzer:innen und Opernsänger:innen bleibt die Ungewissheit über die Dauer ihrer Karriere. "Man muss den Moment geniessen und versuchen, sein Bestes zu geben", meint Riccardo Botta. "Auch wenn wir im Moment leben, sind wir trotzdem gut strukturiert und vorausschauend", bestärkt Guang-Xuan Chen und betont, wie wichtig es ist, flexibel zu bleiben und neue Möglichkeiten zu ergreifen. Christian Hettkamp fügt hinzu, dass man als Künstler die Zeit effektiv einteilen und bewusst Inseln zum Auftanken schaffen muss, um mental und physisch in Form zu bleiben. "Mein Schauspiellehrer hat gesagt: Theater ist kein Bett! ... Und er hatte recht."

... Bühnendarsteller:innen egozentrisch sind?

Alle Künstler:innen sind sich einig: In einem Ensemble hat Egozentrik keinen Platz, Teamwork ist das A und O. "Das muss man sich leisten können, ich kann es leider (noch) nicht. Aber im Ernst, darunter leiden immer die anderen", sagt Marcus Schäfer. Christian Hettkamp ergänzt: "Wer meint, er müsse im Mittelpunkt stehen, wird schnell eines Besseren belehrt." Eine gewisse Selbstbezogenheit bringt der Beruf schon mit sich, gesteht sich Riccardo Botta ein. "Ich denke, das ist eine Berufskrankheit. Normalerweise halte ich mich nicht für egozentrisch, aber sobald mich jemand nach meiner Arbeit fragt, fange ich an, Geschichten zu erzählen, in denen ich meist die Hauptfigur bin!" Dagegen helfen die Pflege von ehrlichen Freundschaften mit Menschen, die über sich selbst und über ihn lachen können, und seine Hobbys.
Unsere Ensemblemitglieder räumen mit Künstlerklischees auf.

... Schauspieler:innen und Musiker:innen viel Alkohol trinken und rauchen und sich Tänzer:innen nur von Zigaretten und Koffein ernähren?

Unsere Darsteller:innen erleben einen deutlichen Wandel. "Die Jungen rauchen noch, getrunken wird insgesamt weniger als früher", meint Marcus Schäfer. Diana Dengler und Christian Hettkamp verzichten auf Alkohol und Zigaretten. Anja Tobler glaubt, dass das Rauchen und vor allem Trinken früher tatsächlich verbreiteter war, jedoch weniger aus Feierlaune, sondern oft als Reaktion auf den enormen Leistungsdruck und ein Klima der Angst. "Da findet heute ein Umdenken statt", schildert sie. Auch Max Näscher meint: "Vor 15 Jahren hätte ich sofort Ja gesagt. Es hat sich jedoch stark verändert."
Und wie ist es bei den Tänzer:innen, denen oft nachgesagt wird, sie würden sich nur von Zigaretten und Kaffee ernähren? "Ich bin definitiv Team Kaffee – aber definitiv nicht Team Zigarette", meint Guang-Xuan Chen. Swane Küpper erklärt, dass dieses Klischee aus einer Zeit stammt, in der Tänzer:innen extrem auf ihr Gewicht achten mussten. Kaffee galt als Energiespender, während Rauchen den Appetit zügelte. Heute ist das anders. "Kaffee ist sicher noch beliebt, aber nicht mehr als an anderen Arbeitsplätzen. Rauchen tut bei uns kaum jemand. Und mich zum Beispiel macht Kaffee nur nervös, und mit Zigaretten konnte ich noch nie etwas anfangen. Ich lasse also von beidem die Finger."

... Tänzer:innen immer auf Diät sind?

"Ich hatte gestern Abend um 22 Uhr einen grossen Burger und Pommes. Als Tänzer brauchen wir viel Energie für die körperlich anspruchsvolle Arbeit. Gesund und stark zu sein, ist wichtiger als nur auf die Körperform zu achten", bekräftigt Guang-Xuan Chen. Swane Küpper ist froh darüber, dass sich in der Tanzbranche der Blick auf den Körper gewandelt hat. Es kommen zwar leider immer noch Essstörungen vor, aber heute gibt es deutlich mehr Vielfalt an Körperformen in Tanzkompanien. Der Fokus hat sich vom Aussehen hin zur Funktionalität verschoben. Eine ausgewogene Ernährung ist essenziell, weil sich Tänzer:innen täglich über viele Stunden intensiv bewegen und der Körper die nötige Regeneration braucht. "Wir essen meist mehr als die anderen am Tisch", fügt sie hinzu.

... Opernsänger:innen immer einen Schal tragen?

Dieses Klischee hat tatsächlich einen wahren Kern. "Ein Modeaccessoire im Sommer, im Winter Notwendigkeit", meint Jonas Jud. "Ich trage ihn immer. Nichts zu Auffälliges, "Tenorhaftes". Ich benutze oft auch Wollkragen, nicht sehr modisch", meint Riccardo Botta. Tenor Brian Michael Moore gibt schmunzelnd zu, dass er das Klischee des neurotischen Tenors voll erfüllt. "Opernsänger sind Athleten, die den empfindlichsten Muskel im Körper nutzen und immer in Bestform sein müssen. Schon der kleinste Husten oder Schlafmangel kann die Stimmgesundheit beeinträchtigen." Besonders
im Winter trinkt er immer heissen Tee und trägt einen dicken Schal – "manchmal sogar zwei oder drei."